Halbe Leben
Gregor, Susanne
Zsolnay Verlag, 2025
ISBN: 978-3-552-07523-8
188 S.
Darum geht's: Klara ist tot. Sie ist beim Wandern abgestürzt und stirbt. Bei ihr war Paulina, die Pflegerin ihrer an Demenz erkrankten Mutter. Klara war bei ihrem Ableben im 4. Monat schwanger. Sie hinterlässt einen Ehemann und ihre 11-jährige Tochter. Mit diesem erschütternden Ereignis beginnt der Roman und rollt die Geschichte, die dahin geführt hat, dann von hinten auf.
Ein Jahr zuvor hat sich Klara dazu durchgerungen, nach einer Pflegekraft für ihre Mutter zu suchen, die nach einem Schlaganfall nicht mehr alleine leben konnte. Sich selbst um sie zu kümmern, schaffte sie neben ihrem Beruf als Architektin und ihren Verpflichtungen als Mutter nicht mehr. Sie hatte ihre eigenen Bedürfnisse und vor allem die Chance, Teilhaberin in ihrem Architekturbüro zu werden, bereits seit mehreren Monaten hintan gestellt, um sich zu kümmern, doch sie wollte nicht, dass es so weitergeht.
Ihre Karriere ist ihr schon immer wichtig gewesen und sie merkte auch, dass ihre Tochter und ihr Ehemann darunter litten. Über eine Agentur wurden ihnen 2 Pflegekräfte vermittelt, die im 14-tägigen Wechsel ab sofort auf die Mutter schauen und während dieser Zeit auch in ihrem Haus, im eigenen Stockwerk der Mutter wohnen würden.
Paulina und Radek, die beiden Pflegenden, sind ein Segen. Radek wird zwar eher nur geduldet, mit ihm wird Klara nicht wirklich warm und während seiner Anwesenheit fühlt sie sich weniger wohl in ihren eigenen vier Wänden, als wenn Paulina da ist. Aber dennoch genießt sie ihre wiedergewonnene Freiheit, ihr eigenes Leben zu leben. Wieder Tochter zu sein. Wieder mehr zu arbeiten. Auch wieder Zeit für ihre Tochter zu haben.
"Als Klara am Abend von der Arbeit nach Hause kommt, sitzt Paulina mit Irene, Jakob und Ada auf der Terrasse und verteilt Eiskugeln. Klara bleibt eine Weile am Rand des Gartens stehen, den Laptop noch geschultert, und betrachtet die vier mit seligem Lächeln. Sie wähnt sich unbemerkt, aber Paulina hat sie bereits aus den Augenwinkeln entdeckt und lässt sich nichts anmerken, und als Ada ihrem Vater die vom Eis violette Zunge herausstreckt, wirft Paulina ihren Kopf zurück und lacht." S. 48
Um diese Arbeit annehmen zu können, musste Paulina ihre eigenen beiden Söhne jeweils vierzehn Tage ihrer Ex-Schwiegermutter überlassen, was ihr sehr schwer fiel. Aber sie sieht keine andere Möglichkeit, um ausreichend Geld zu verdienen und für sich und die Jungs etwas beiseite zu legen. Dennoch wächst ihr Schuldgefühl von Monat zu Monat mehr an und ihre Söhne, vor allem der ältere, zeigen ihr zunehmend die kalte Schulter. Nach und nach fragt sie sich, ob es ein Fehler war, diese Arbeitsstelle anzunehmen.
So geht's mir dabei: Ich bin ein Fangirl erster Stunde aller Romane von Susanne Gregor. Dieses Buch ist aber eine ganz besondere Glanzleistung. Unfassbar geschickt und subtil fädelt die Autorin die Gefühlswelten der einzelnen Protagonist:innen zueinander ein und lässt diese sehr langsam aber doch beständig distanzierter werden. Als Paulina in die Familie kommt, fühlt es sich schnell nach Freundschaft an. Fast könnte man meinen, sie wird zu einem Familienmitglied. Doch das täuscht. Die Grenzen, die von Anfang an da sind, werden immer markanter und das liegt nicht nur an den verschiedenen Lebensrealitäten. Wie Susanne Gregor das sprachlich transportiert ist meiner Meinung nach wirklich genial und das ist es, was für mich Literatur ausmacht. Sprache macht hier spürbar, was Menschen fühlen, ohne es wirklich beim Namen zu nennen.
Die Autorin lässt uns an der Innensicht von Klara, Paulina, Irene und Jakob teilhaben, wodurch uns Lesenden alle Personen sehr nahe kommen. Wir verstehen Irene, die nach den beiden Schlaganfällen zunehmend orientierungslos wird und oft ihre eigene Vergangenheit mit dem Hier und Jetzt verwechselt. Wunderschön ist die innige Verbindung zwischen Irene und ihrer Enkeltochter Ada. Diese Szenen gingen mir richtig nahe.
Wir verstehen Paulina, die nicht nur ihrer Verantwortung als Pflegekraft nachkommen will, sondern auch jener, ihren Söhnen eine gute Mutter zu sein. Auch die zunehmende Distanzierung ist nachvollzieh- und gar spürbar.
Und auch Klara verstehen wir, der ihre Karriere wichtig ist, die weiß, dass sie nicht gut darin ist, einen Haushalt zu führen und sich um andere zu kümmern. Die deshalb auch nichts Schlimmes daran findet, Paulina zu fragen, ob sie an einem Tag länger bleiben und an einem anderen Wochenende einspringen kann. Die nicht darüber nachdenkt, was das für die Söhne der Pflegerin bedeutet und in welche Position sie Paulina mit diesen Bitten bringt.
In diesem Buch kommen viele Themen vor, die tief berühren: Die Herausforderung, einer an Demenz erkrankten Mutter. Für die Erkrankte selbst und für die Tochter die plötzlich ihre Rolle als Tochter verlassen muss. Gefestigte Rollenklischees und die automatische Verurteilung, wenn eine Mutter ihre Karriere verfolgt und der Vater einer unregelmäßigen Arbeit nachgeht und mehr Zeit Zuhause verbringt. Der Spagat zwischen Geld verdienen, um den Kindern etwas bieten zu können und die Kinder dafür in eine "Fremd"-Betreuung zu geben (in diesem Fall zwar die Großmutter der Kinder, aber dennoch keine nahestehende Person der Mutter). Und welche Rolle der Vater, der die Familie verlassen hat, in diesem Gefüge einnimmt, ohne dabei einer Verurteilung zu unterliegen. Die Unterschiede zwischen den Kulturen. Care-Arbeit generell. Und noch so einiges mehr...Eine unglaubliche Leistung auf gerade mal 190 Seiten.
Geht's kurz und knapp? Das Buch in wenigen Worten zu beschreiben fällt mir schwer. Mich hat die Geschichte tief berührt und durch den rasanten Einstieg, blieb sie sehr spannend. Völlig zurecht ist das Buch gerade in aller Munde und schon jetzt gibt es Auflage 2. Ich kann es auch von Herzen empfehlen.
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Ich bedanke mich bei der Autorin und dem Zsolnay Verlag für das Rezensionsexemplar.
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