Lichtungen
Wolff, Iris
Roman
Klett-Cotta, 2024
ISBN: 978-3-608-98770-6
255 S.
Darum geht's: Lev und Kato verbindet seit Kindertagen eine Freundschaft. Beide sind in einem kleinen Ort in Rumänien aufgewachsen und haben dieselbe Klasse besucht. Als Lev für längere Zeit nicht zur Schule kommen kann, weil seine Beine ihn nicht mehr tragen wollen, wird Kato damit beauftragt, ihm die Hausübung zu bringen. Bis dahin hatten sie nichts miteinander zu tun, doch diese Fügung soll das Leben der beiden nachhaltig verändern. Katos Person ist es schließlich, die ihn wieder zurück in den Alltag holt und sie bleiben während des Erwachsenwerdens unzertrennlich miteinander verbunden. Ihre Tage sind geprägt von ihren jeweiligen Familien, von jugendlichem Leichtsinn, vom Kommunismus und damit einhergehenden Verpflichtungen und sie erleben schließlich beide, wie die Grenzen in ganz Europa geöffnet werden. Für Kato Anlass genug, um zu reisen und sich durch viele verschiedene Länder zu bewegen, während Levi zu Hause bei seinen Wurzeln bleibt und das Heimatdorf nicht verlässt. Mit Kato bleibt er dennoch verbunden, denn sie schickt ihm Postkarten aus den unterschiedlichen Ländern. Als sie ihn auf einer davon schließlich fragt, wann er kommt, ist es auch für ihn an der Zeit, Grenzen zu überwinden und sein Land hinter sich zu lassen.
"Ob es auch in Wien jene vier Typen gab, nach denen sein Großvater die Menschheit seit jeher einteilte? Ferrys Ansicht nach gab es eigentlich nur Heilige und Verrückte, kluge Leute und Idioten. Bedauerlicherweise wurde das Verrückte immer normaler, und das Idiotische immer salonfähiger, so dass man kaum mehr dahinter kam, wer was war." (S. 26)
So geht's mir dabei: Wow. Was für ein Buch. Im Nachhinein kann ich nicht glauben, dass diese Geschichte nur 255 Seiten hatte. Viel zu umfangreich erscheinen mir die Themen und Fügungen, die Persönlichkeiten und die Beziehungen, von denen ich hier gelesen habe. Iris Wolff erzählt die Geschichte von Lev und Kato in der Zeit rückwärts. Das erfordert doch ein hohes Maß an Konzentration und hat mich teilweise herausgefordert. Eigentlich müsste ich das Buch jetzt noch einmal lesen, dann würde ich bestimmt noch viel mehr Zusammenhänge verstehen. Ich muss nämlich zugeben, über Rumänien und seine Geschichte weiß ich so gut wie gar nichts und da hätte ein wenig Vorwissen nicht geschadet.
Eine unglaubliche Kunst der Autorin ist es, Themen in die Geschichte einzuflechten, sich dann aber zu entscheiden, den Lesenden etwas zuzutrauen und diese nicht bis ins kleinste Detail auszuerzählen. Das schadet der Geschichte nicht, macht aber Neugierig auf die Hintergründe, weil ja klar ist, dass es hier nicht um Fiktion geht. Genial gelingt es Iris Wolff dabei, nie ins Schwerfällige abzudriften, trotz der Tragik, die die Geschichte auch (aber nicht überwiegend!) mit sich bringt.
Sprachlich ist das Buch eine reine Wohltat. Wenn mich jemand fragt, was Literatur ist, kann ich antworten: Das. Dieses leise Buch von Iris Wolff ist für mich ein literarischer Hochgenuss. Das hat zur Folge, dass es sich nicht nebenbei schnell weglesen lässt, was aber überhaupt nicht als Nachteil zu werten ist. Viele Sätze habe ich wiederholt gelesen, weil mich die Sprachkunst fasziniert hat und die leisen Zwischentöne feiere ich sehr. Völlig zurecht stand dieses Buch heuer auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises.
Geht's kurz und knapp? Eine sehr berührende Geschichte und sprachlich keine ganz einfache Lektüre. Anspruchsvolle Leser:innen kommen hier voll und ganz auf ihre Kosten.
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