Die Beichte einer Nacht

Philips, Marianne

Roman

Aus dem Niederländischen von
Eva Schweikart

Mit einem Nachwort von 
Judith Belinfante

Diogenes Verlag, April 2021
ISBN: 978-3-257-86402-1
288 Seiten



Darum geht's:
Heleen setzt sich zu einer Nachtschwester und beginnt, ihr von ihrem Leben zu erzählen. Sie befindet sich in einer Nervenklinik und gehört zu den "Abgesonderten". Schnell erfährt man, dass wohl etwas fürchterliches passiert sein muss, und dass es Leen bis dahin nicht möglich war, die Ereignisse in Worte zu fassen. Aber jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, an dem sie alles erzählen kann und muss und so berichtet sie in zwei aufeinanderfolgenden Nächten ihre gesamte Lebensgeschichte. 

"Haltet ihr mich für verrückt, weil ich manchmal nicht mehr weiß, wo ich bin - in der Hölle oder in einem Irrenhaus? Kann meine eigene Hölle denn nicht wie ein Irrenhaus aussehen?

Ach, so werde ich nie erzählen können, wie alles gewesen ist. Und ich will es doch erzählen, bis zum Ende." (S. 171)

Und das tut sie auch: Angefangen bei ihrer ärmlichen Kindheit, in der sie sich stets um jüngere Geschwister kümmern musste, über ihre Jugend, in der sie sich nicht mit ihrem Schicksal abfinden wollte und so durch ihren Fleiß und mit Hilfe ihrer Schönheit von zu Hause weg in ein selbstständiges Leben in der Stadt gezogen ist. Dort hat sie es geschafft, Verkaufsleiterin einer großen Abteilung in einem modernen und noblen Modehaus zu werden. Trotz ihrer Karriere führt sie ein bescheidenes Leben und schickt einen Großteil ihres Geldes stets nach Hause zu ihren Eltern, um diese und ihre 9 Geschwister zu unterstützen. 

Als ihre Mutter stirbt, ist ihre jüngste Schwester Lientje gerade ein Teenager. Heleen ist zu diesem Zeitpunkt bereits mit einem Geschäftsmann verheiratet, der wesentlich älter ist als sie. Sie beschließen, Lientje zu sich zu nehmen. Da sie sich in ihrer Ehe von Beginn an sehr unwohl fühlt und nach und nach der Wunsch nach Freiheit und Selbstbestimmtheit größer wird, als der Wunsch, eine Ehefrau zu bleiben, folgt die Trennung und Leen zieht mit ihrer kleinen Schwester in eine Wohnung. 

Lientje ist ein ruhiges und unkompliziertes Kind und es folgen unbeschwerte Jahre, in denen sie zwar nicht viel Geld haben aber zumindest frei sind und eine gute Zeit zusammen erleben. Bis schließlich Hannes in ihr Leben tritt. Er ist Lientjes Lehrer und mit ihm lernt Heleen erstmals die große Liebe kennen. 

Hannes wird ihr zweiter Ehemann und sie genießen glückliche gemeinsame Jahre. Bis schließlich für Hannes klar wird, dass seine Frau keine Kinder bekommen kann. Eine Tatsache, die nicht nur für Leen schwer ist, die ihr schlechtes Gewissen antreibt und für die sie sich zutiefst schämt, sondern auch für Hannes, der es als Lehrer gewöhnt ist, von Kindern umgeben zu sein und der sich selbst unbedingt Kinder wünscht. Leen macht sich immer größere Vorwürfe, dass sie Hannes' Ehefrau wurde, obwohl sie kommen sah, dass sie sein Unglück sein würde. Gleichzeitig fühlt sie sich immer älter und hässlicher und wird enorm eifersüchtig gegenüber allen weiblichen Personen, mit denen Hannes zu tun hat. Erst als Hannes bei einem Unfall ums Leben kommt, wird ihr klar, dass sie auf eine einzige Person niemals eifersüchtig war, obwohl diese mittlerweile ebenfalls zu einer jungen schönen Frau herangewachsen war. Und schließlich gerät alles endgültig aus den Fugen. 

So geht's mir: Es ist unfassbar, welche Bücher in den 1930er Jahren bereits von Frauen verfasst wurden. Natürlich war das den Herren der Schöpfung damals suspekt und so ist es auch kein Wunder, dass die Kritik dem Roman gegenüber sehr skeptisch war, wie man im Nachwort erfährt. 

Zum Glück werden solche Autorinnen heute (wieder)entdeckt und neu verlegt. So können wir in das Leben einer Frau in den 1920er Jahren in den Niederlanden eintauchen und lernen eine besondere Zeit kennen. Wie die Enkelin der Autorin ebenfalls im Nachwort erzählt, sind einige Elemente in dem Buch autobiografisch, was es umso greifbarer macht. 

Die 'Tonart' eines Monologs, in dem die Geschichte erzählt wird, finde ich sehr gelungen gewählt. Auch, dass der Erzählstrang immer wieder durch eine direkte Anrede der Krankenschwester, durch den Tagesanbruch oder durch Überschlagungen in der Erinnerung unterbrochen wird, macht den Roman spannend. Da immer wieder kurze Episoden anderer Patient:innen erzählt werden, erhält man außerdem einen Einblick in die Station, auf der sich die Protagonistin Leen befindet. 

In dem Buch geht es um das selbstbestimmte Leben einer Frau, zu einer Zeit, in der das noch nicht selbstverständlich war, um den Verlust der eigenen Kontrolle durch einen Druck, der von der Gesellschaft auferlegt wird (Eine Frau, die keine Kinder bekommt, ist weniger wert), um die Fürsorge der eigenen Familie, die bestehen kann, auch wenn man sich selbst verwirklicht und schließlich um die Gesellschaft der 1920er Jahre. 

Mich erinnerte viel in dem Buch an "Kindheit" von Tove Ditlevsen und das ist großartig, denn auch dieses Buch fand ich sehr gut. 

Geht's kurz und knapp: Ein Buch über eine selbstbewusste Frau in den 1920er Jahr in den Niederlanden. Klare Leseempfehlung.

Über diesen Link ist das Buch bei der Tyrolia Buchhandlung ab sofort bestellbar. Quasi druckfrisch. 😀

Ich bedanke mich beim Diogenes Verlag für das Rezensionsexemplar. 

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